Von der Selbsterkenntnis

Und ein Mann sagte: Sprich zu uns von der Selbsterkenntnis.
Und er antwortete und sagte: Euer Herz weiss schweigend
die Geheimnisse der Tage und der Nächte. Doch eure Ohren
lechzen nach dem Klang des Wissens eures Herzens. Ihr
möchtet in Worten erfahren, was ihr im Denken schon immer
gewusst habt. Ihr möchtet mit euren Fingern den nackten
Leib eurer Träume begreifen.
Und das ist auch richtig so. Der verborgenen Quellbrunnen
eurer Seele muss unweigerlich steigen und murmeln zum Meer
fliessen; Und der Schatz eurer endlosen Tiefen möchte euren
Augen offenbart werden. Doch haltet keine Waage bereit,
um eure unbekannten Schätze zu wägen; Und versucht nicht,
die Tiefen eures Wissens mit Messstab oder Leitleine zu
ergründen. Denn das Selbst ist ein Meer ohne Grenzen und
Mass.
Sagt nicht: «Ich habe die Wahrheit gefunden», sondern: «Ich
habe eine Wahrheit gefunden.» Sagt nicht: «Ich habe den
Weg der Seele gefunden.» Sagt: «Ich bin auf meinem Weg der
wandernden Seele begegnet.» Denn die Seele wandelt auf
allen Wegen. Die Seele geht keinen geraden Weg, noch wächst
sie wie ein Schilfrohr. Die Seele entfaltet sich, gerade
so wie ein tausendblättriger Lotos.

Khalil Gibran: Der Prophet. 4. Auflage. München 2002. S. 70.
 
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esther abplanalp, bern
 

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